Der Osten wird neu erstrahlen

Wie schnell doch die Zeit vergeht. Der Mauerfall ist bereits über zwei Jahrzehnte her; ich war gerade mal vier Jahre alt. Der 11. September, Irak 2003, Libyen 2011. Aber erstaunlicher finde ich, wie die Medien mit der Zeit umgehen. Nämlich sehr einfach: Es ist alles Vergangenheit und unwichtig! Oder hat irgendjemand noch mal was vom Herrn Wulff gehört? Dem russischen Einfall in Georgien? Guantanamo?

 

Selbst ein solch großes Ereignis wie die Atomkatastrophe von Fukushima, die gerade mal knapp ein Jahr her ist und uns unmittelbar politisch betroffen hat, verschwand in den Archiven der Zeitungen und Sender. Deshalb dachte ich mir, informiere dich doch einfach selbst, wie der aktuelle Stand der Dinge ist. Glaubt mir, es lief mir mehrmals eiskalt den Rücken runter.

Es begann gleich vielversprechend zu werden, denn bis heute werden täglich Pressekonferenzen von der Betreiberfirma TEPCO gehalten und der Grundtenor lautet, wie bereits während des Desasters, dass alles unter Kontrolle sei. Selbst wenn der Pressesprecher ganz beiläufig so winzige Angelegenheiten erwähnt, wie verschwundenes radioaktives Kühlwasser und von wachsendem Gras durchlöcherte Leitungen für eben solches Wasser. Sind ja auch nicht wichtig, solche kleinen Details und Lappalien.

Die Firma TEPCO spielt einfach alles herunter und das nicht erst seit dem 11. März 2011. Schon seit Jahrzehnten, seit dem Bau in den 1970ern, wurden mehrere schwere Mängel und Fehler in den Reaktoren entdeckt. Unter anderem gigantische Risse in den Wänden, verkehrt herum(!) eingebaute und verzogene Teile. Doch das Einzige, was nach außen drang war Schweigen. Sogar eine Kernschmelze in Fukushima wurde geheim gehalten. Der Schleier der Vertuschung hing über dem Land und hängt, mit nur wenigen Lichtblicken bis heute.

Denn die ganze Atomlobby, verharmlosend „Atomdorf“ genannt, ist mächtig im Land der aufgehenden Sonne. Und wie es sich für eine erfolgreiche Lobby gehört, geht die Wirtschaftlichkeit der Betriebe stets vor. Da ist es natürlich praktisch, wenn TEPCO, der größte Energieproduzent Japans, Regierungsteile und einige Universitätswissenschaftler am selben Strang ziehen. Das Ganze ist ein undurchschaubares Netzwerk aus Korruption, Vetternwirtschaft und Gewalt. Klingt so ein bisschen nach einem John Grisham Roman, oder? Aber dazu später mehr.

Erst 2001, als der Gouverneur der Provinz Eisaku Sato merkte, dass das Wirtschaftsministerium vertrauliche Faxe direkt an TEPCO weiterleitete, damit diese ihre eigenen Berichte fälschen konnten, kam die Wahrheit an die Öffentlichkeit. Die Folgen waren die kurzfristige Abschaltung von 17 Reaktoren und einige Rücktritte. Vor Gericht musste sich niemand rechtfertigen. Warum auch? Der Hauptverantwortliche dieser Vertuschungen, Tsunehisa Katsumata, wurde sogar befördert und ist heute noch der Vorsitzende der Firma.

An Herrn Sato rächte sich das „Atomdorf“ übrigens. 2004 enthüllte ein Journalist angebliche illegale Grundstücksgeschäfte des Gouverneurs. Sein Bruder wurde verhaftet und mehrere Personen in seinem Umfeld wurden unter Druck gesetzt, sich negativ über Sato zu äußern. Einige begannen Selbstmord. Daraufhin trat Sato zurück, auch um Freunde und Bekannte zu schützen. Selbstverständlich wurde er vor Gericht von den Anschuldigungen freigesprochen. Ach ja, habe ich schon erwähnt, dass der Journalist eigentlich für Atompolitik zuständig war? Ein Schelm wer Böses denkt.

TEPCO kann deshalb so erfolgreich gegen „Feinde“ vorgehen, weil es sich mit genug „Freunden“ ausstattet. Wissenschaftlern werden Karrierechancen verbaut, wenn sie kritisch von der Atomkraft reden. Politiker hingegen werden einfach mit „Spenden“ gekauft. Außerdem investiert das Unternehmen auch in den Bereichen Kultur, Medien und Sport. Im Prinzip umfasst dieses Konzept das ganze Land; mitsamt dem Regierungsapparat. Denn im Parlament sitzen über 100 Abgeordnete, die Geld von TEPCO erhalten, darunter auch ehemalige Premierminister. Des Weiteren kommt noch der fließende Wechsel zwischen Politik und Betrieb. Denn viele ehemalige Beamte und Abgeordnete wechseln irgendwann in die Führungsriege TEPCOs. Und umgekehrt. Da zeigt sich doch mal die viel beschworene Flexibilität des Arbeitsmarktes!

Wenn man es also genau nimmt, so zeigten das Erdbeben und der Tsunami lediglich die seit Jahrzehnten, von Menschenhand begangenen Fehler auf. Diese begannen bereits mit dem Standort für den Bau der AKWs! Die Anlage Fukushima Daiichi war ursprünglich auf einer Anhöhe von 35 m geplant. Diese wurde jedoch auf ca. 10 m abgetragen. Der Grund: Diese würde Zeit, ergo Geld, für das Einpumpen vom Kühlwasser in die Anlage sparen. Klingt logisch. Und dazu noch die geniale Idee, den Tsunamischutzwall nur 6 m hoch zu bauen. Die Welle gab dem maroden und ältesten AKW Japans nur den Gnadenstoß. Und die per Gesetz festgelegte Notfallzentrale war nicht nur 5 km entfernt, sondern funktionierte auch keine einzige Minute. Moderne Effizienz in all ihrer Pracht!

Selbst während der Katastrophe wurde gelogen und Informationen zurückgehalten. Der Premierminister Naoto Kan erfuhr erst aus dem Fernsehen von den Explosionen in den Reaktoren. Auch Tage danach wurde noch beschwichtigt; die Situation heruntergespielt. Als Kan sich selbst ein Bild machen wollte, wurden ihm nur Stellen und Anlagen gezeigt, die TEPCO für richtig hielt. Es fiel kein Wort darüber, dass in drei Reaktoren bereits Kernschmelzen stattgefunden hatten; und das schon am Abend des 11. März! Doch in den Berichten dazu, war nicht einmal von Störungen oder Problemen die Rede. Ist wohl wie bei der Literatur und der Kunst: alles eine Frage der Wahrnehmung.

Unlängst warnten Seismologen davor, das Japan in den nächsten vier Jahren zu 75% erneut von einem Erdbeben dieser Größenordnung heimgesucht werden wird. Zudem scheinen Erdverschiebungen weltweit stärker und schneller zu werden. Alle Reaktoren in Japan sind so gebaut, dass sie zwischen 300-450 Gal aushalten, die Maßeinheit für solche Beschleunigungen. Die Sicherheitsbehälter sind bis zu 600 Gal ausgelegt. Sozusagen, als Zeichen des guten Willens gegenüber allen Kritikern, für einen absolut unrealistischen Fall. Blöd nur, dass die Untersuchungen zu den letzten beiden Beben ergaben, dass Beschleunigungen von bis zu 4.000 Gal erreicht wurden! Bisher sind trotzdem keine Verstärkungen der Wände und Anlagen vorgesehen, wobei Experten der Meinung sind, dass es ohnehin nahezu unmöglich ist, sich gegen eine solche Naturgewalt zu schützen. Das macht Mut! Doch TEPCO sagt wie eh und je, dass es in Zukunft keine Probleme mehr geben wird. Habe ich da irgendwas verpasst?

Wohl schon, denn in Japan gibt es noch immer ca. 60 aktive Reaktoren, die nur darauf warten in die Luft zu fliegen. Auch zwei davon in der Fukushima-Daiichi-Anlage sind noch in Betrieb und der schwer beschädigte Reaktorblock 4 ist ohnehin noch eine Gefahr. Sollte dieses Gebäude zusammenbrechen, käme es zu einer Kernschmelze unter offenem Himmel und wir würden Japan in Zukunft nur noch aus Geschichtsbüchern kennen. Aber warum so weit nach Osten blicken, wenn Frankreich doch so nahe liegt. Da stehen nämlich noch 58 Reaktoren und das Land bezieht 75% ihres Stromes aus diesen.

Bei uns sind es ja mittlerweile nur noch neun solcher Meiler und der Atomausstieg scheint beschlossene Sache zu sein, nachdem die CDU zum ersten Mal in Baden-Württemberg den Kürzeren zog. Ich hoffe bloß, dass Mama Merkel jetzt nicht als die tolle Reformerin durchgehen wird. Wahlkampfkalkül ist nicht ehrbar. Aber sei es drum. Der Ausstieg wird ca. 3 Mrd. Euro kosten und schon gibt es Aufschreie, wer das denn zahlen soll. Nun, bei knapp über 80 Millionen Einwohnern wären das etwas mehr als 3 Euro pro Monat. Da lässt man einfach mal einen Kaffee weg und schon ist es drin! Bei den Geldern für Griechenland wurde auch nicht lauthals gejammert.

Und Strom wird es auch noch geben! Das einzige Licht was erloschen zu sein scheint, ist das in den Köpfen der Atomlobbyführer. Denn ihre Wahrnehmung der Zeit scheint aus einer anderen Welt bzw. „Dorf“ zu sein und noch schneller zu vergehen, als die der Medien. Ein Beispiel? „Ein Supergau ist nur alle 10.000 Jahre möglich.“ Okay, angenommen es wäre so, sollte man es sich nicht dennoch überlegen? Aber egal, denn seitdem müssen mehrere Jahrtausende vergangen sein, angesichts der Tatsache, dass seit den 50er Jahren nun 31 ernsthafte Zwischenfälle in AKWs gab. In Deutschland waren es bisher immerhin 20 meldepflichtige Zwischenfälle.

Weltweit waren 2011 noch 212 Kernkraftwerke mit 432 Reaktorblöcken in 30 Ländern aktiv. Und manche planen trotz allem den Bau neuer bzw. erster AKWs. Da lobe ich mir meine andere Heimat Italien, die trotz Wirtschaftsguru und Nuttenpreller Berlusconi noch immer atomfrei ist.

Doch solange ein Dorf die halbe Welt regiert und Politiker ihre Macht und das Geld über den Verstand stellen, wird es auch in Zukunft AKWs geben.

Und manche werden dann wohl in neuem Licht erstrahlen. Laut, hell und pilzförmig.


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